21. Oktober 2019

VW Dieselskandal Euro 6 – aktueller Stand und Klagemöglichkeiten

Dieselskandal Euro 6

Betrug bei Euro 6 Dieseln?

Pünktlich zur internationalen Automobilausstellung Mitte September gab es wieder neue Schlagzeilen im Dieselkandal um VW. Der Autobauer soll bei einem weiteren Dieselmotor die Prüfwerte manipuliert haben – und hat damit möglicherweise erneut die Verbraucher betrogen. Im Fokus steht jetzt ein modernerer Diesel-Motor mit dem Kürzel EA 288 – er ist der Nachfolgemotor des Schummeldiesels EA 189 und nach Euro 6 zertifiziert. Verbaut wurde dieser Motor von Volkswagen unter anderem in Golf, Tiguan und Passat.

Hinweise in internen VW-Dokumenten

Die Vorwürfe kommen von Axel Friedrich, Abgas-Experte und ehemaliger Abteilungsleiter beim Umweltbundesamt. Seit Jahren ist er einer der lautesten Kritiker im Diesel-Abgasskandal um Volkswagen und berät die Deutsche Umwelthilfe. Friedrich hat in VW-internen Dokumenten offenbar Hinweise darauf gefunden, dass es bis Mitte 2016 auch beim neueren Euro 6 Dieselmotor EA 288 eine Zykluserkennung und Abgas-Abschalteinrichtung gegeben hat. Das Kraftfahrtbundesamt untersucht diese Vorwürfe, VW streitet sie ab.

Warum ist der Verdacht so brisant? Sollten sich die Vorwürfe von Axel Friedrich bestätigen, hätte Volkswagen seine Kunden weiter betrogen, und zwar auch bei den angeblich sauberen Euro 6 Diesel-Motoren. Obwohl das Unternehmen längst mitten im Abgasskandal steckte.

Die Einschätzung unseres Verbraucheranwalts Helmut Dreschhoff zu diesen erneuten Vorwürfen gegen Volkswagen:

Der EA 288 ist der Nachfolger von dem EA 189. Hier scheint es nun auch so zu sein, dass VW nicht in der Lage war, ohne manipulierte Abgas-Software die Grenzwerte einzuhalten. Allerdings gibt es bislang keine Rückrufe des KBA. Wir befürchten allerdings, dass auch diese ausstehen werden.“

Wie werden Schadstoffklassen wie die Euro 6 gruppiert?

Die neue Euro 6 Abgasnorm soll künftig mit einer blauen Feinstaubplakette gekennzeichnet werden. Bislang gibt es die Farben rot, gelb und grün.

Bei der Euronorm handelt es sich um Abgas-Grenzwerte. Sie legen fest, bis zu welchem Wert Fahrzeuge Schadstoffe in die Luft ausstoßen dürfen. Demnach bestimmen sie auch, in welchen Zonen Fahrzeuge fahren dürfen. Bislang gelten für die mit Euro 6 zertifizierten Diesel noch keine Fahrverbote, für Fahrzeuge der Abgas-Normen darunter teilweise schon.
Es gibt derzeit Plaketten in rot (diese gelten für Dieselfahrzeuge der Abgasnorm Euro 2), gelb (Euro 3 und Euro 4) und in grün (Euro 5 und Euro 6). In absehbarer Zukunft soll eine Umweltplakette in blau hinzukommen, die für Euro 6-Fahrzeuge und aufwärts gilt.

Die Euro 6 Norm ist unterteilt in mehrere Abstufungen – Euro 6b, Euro 6c, Euro 6d temp und Euro 6d. Der Buchstabe zeigt die Gültigkeit der Norm an – und wie getestet werden muss. Dabei sind die Grenzwerte für die Euro 6 Diesel gleich – maximal 500 Milligramm Kohlenmonoxid pro Kilometer und höchstens 80 mg NOx, also Stickoxide, pro Kilometer. Allerdings unterscheidet sich bei den unterschiedlichen Euro 6 Normen der Konformitätsfaktor und die Art des Tests.

Für Euro 6 b wurde noch auf Basis des NEFZ-Zyklus getestet. Hier weichen die Prüfstandswerte aber stark von der Realität ab. Seit September 2018 dürfen Neuwagen mit Euro 6 b nicht mehr zugelassen werden. Euro 6 c Diesel dürfen seit September 2019 nicht mehr neu zugelassen werden. Bei ihnen beruht der Abgastest auf dem neueren WLTP-Prüfzyklus. Dieser Abgastest soll realitätsnäher sein als der NEFZ-Zyklus, da zum Beispiel stärker beschleunigt wird und das Auto mit unterschiedlichen Ausstattungen getestet wird. Bei Euro 6 d TEMP müssen die Fahrzeuge mit dem Verfahren RDE ihre Sauberkeit unter Beweis stellen.

Bis Ende 2020 dürfen Fahrzeuge nach diesem Standard zugelassen werden. RDE steht für Real Driving Emissions, also die Abgaswerte unter realen Fahrbedingungen, der neue Standard für Euro 6 Fahrzeuge in der EU. Heißt konkret: Die Stickoxid-Werte eines Euro 6 d TEMP Fahrzeugs dürfen beim RDE-Test auf der Straße 2,1 mal so hoch sein, wie auf dem Prüfstand. Ab 2021 kommt dann Euro 6 d – dabei wird genauso getestet wie bei Euro 6 d TEMP, aber die Abweichungen dürfen nicht mehr so hoch sein wie bei Euro 6 d TEMP.

Was ist dran am neuen Schummelverdacht?

Was genau will Friedrich beim Euro 6 Diesel EA 288 entdeckt haben? Konkret geht es um sogenannte Fahrkurven – ein Signal der Software, das der Motorsteuerung signalisiert: Das Fahrzeug steht gerade auf dem Abgas-Prüfstand. Mitte 2016, also kurz nach dem Bekanntwerden des Dieselskandals um Volkswagen, wurden die Fahrkurven aus der Software entfernt – das geht aus den zitierten VW-Dokumenten hervor.

Auf den ersten Blick wirkt das verdächtig, aber ein Beweis für Manipulation ist es noch nicht. Fahrkurven haben einen wichtigen Grund. Das Auto muss die Prüfsituation erkennen können, damit ABS und andere Systeme abgeschaltet werden. Eine Zykluserkennung in der Software ist also per se nichts ungewöhnliches.

Die Messungen der Dieselabgase bei diesen Fahrzeugen sind ebenfalls nicht verdächtig. Unabhängige Tests haben bei den meisten Euro 6 Diesel-Fahrzeugen mit EA 288 keine Überschreitung der Grenzwerte festgestellt. Dennoch: Vereinzelt gab es auch Rückrufe bei weiteren Fahrzeugen des VW-Konzerns – beim Porsche Cayenne zum Beispiel und VW T6. Auch hier war der Grund unzulässige Abschalteinrichtungen.

Warum wird nicht besser kontrolliert?

Doch warum wird nicht besser kontrolliert, insbesondere bei der strengen Abgasnorm Euro 6?

Helmut Dreschhoff: Wir haben leider in Deutschland eine zuständige Behörde, das Kraftfahrtbundesamt, das meines Erachtens bei weitem nicht das tut, was ihre Aufgabe wäre. Es ist zu vermuten, dass der Einfluss der Autolobby in Deutschland derart stark ist, dass das nicht immer gewünscht ist.“

Euro 6 dargestellt im Text
Helmut Dreschhoff, Anwalt der Verbraucherkanzlei Baumeister Rosing, spricht über erneute Manipulation beim Euro 6 Diesel

Heißt mächtige Lobby, dass es weniger Kontrollen gibt?

Die Autolobby ist mächtig in Deutschland. Viele Arbeitsplätze hängen an der Autoindustrie. Für Helmut Dreschhoff ist offensichtlich, dass sich das auch in den Kontrollen niederschlägt.

„Man verlässt sich komplett auf die Aussagen des Herstellers. Man macht ein Stück weit den Bock zum Gärtner, wenn man sich auf die Aussagen des Herstellers verlässt, ohne wirklich umfangreiche eigene Ermittlungen durchzuführen.“

Klage gegen VW

In den USA haben betrogene Diesel-Käufer großzügige Entschädigungen erhalten. Volkswagen musste sich mit gut 500.000 Klägern einigen. Der Konzern stellte die Autobesitzer vor die Wahl, ihr Fahrzeug zurückkaufen oder umzurüsten. Dazu gab es eine Entschädigung. Der Abgasskandal bedeutete für Volkswagen Schadensersatz in Milliardenhöhe.

Wie stehen meine Chancen?

Und in Deutschland? Hier sieht es anders aus. Umfangreiche Entschädigungen? Fehlanzeige. Diesel-Käufer sind unsicher. Welche Ansprüche kann ich als Käufer eines manipulierten Diesel-PKW geltend machen? Kann ich als Verbraucher im Diesel-Abgasskandal überhaupt eine Entschädigung erwarten?

Ja, sagt unser Verbraucheranwalt Helmut Dreschhoff. Er rät unbedingt zu einer Klage.

Helmut Dreschhoff: „Der einzelne Verbraucher hat vielleicht einen Schaden, macht diesen gegenüber einem großen Unternehmen aber nicht geltend, weil ihm der Schaden zu gering erscheint. Beim VW-Skandal ist es natürlich etwas anderes, da die Schäden hier eine eklatante Höhe haben. Trotzdem ist es Immer das Problem: David gegen Goliath. Der einzelne Verbraucher sieht sich einem großen Unternehmen gegenüber, welches ganz andere finanzielle Mittel hat.“

Neues Rechtsmittel: Die Musterfeststellungsklage

Doch machtlos sind Verbraucher nicht. Dafür sorgt auch eine Änderung im deutschen Rechtssystem.
Seit Ende 2018 gibt es in Deutschland das Rechtsmittel der Musterfeststellungsklage, eine zivilrechtliche Verbandsklage. Dabei ziehen Verbraucher nicht selbst vor Gericht, sondern schließen sich einer Sammelklage an. Kläger sind im Fall Volkswagen der Verbraucherzentrale Bundesverband und der ADAC. Sie vertreten zahlreiche Käufer von Fahrzeugen mit dem Dieselmotor EA 189, die von einem Rückruf betroffen waren.

Der Dieselskandal war überhaupt erst der Anlass dafür, dass die Musterfeststellungsklage in das deutsche Rechtssystem eingeführt wurde. Noch am Tag der Einführung am 1. November 2018 reichten der Verbraucherzentrale Bundesverband und der ADAC Klage gegen VW ein. Gut 470.000 Personen schlossen sich an. Für den Verbraucherschutz ist die Musterfeststellungsklage ein Meilenstein, denn sie ist kostenfrei und der Einzelne trägt kein Prozesskostenrisiken.

Am 30. September war der mündliche Prozessauftakt am Oberlandesgericht in Braunschweig. Die Frage, die zu klären gilt: War der Einbau der manipulierten Motorsteuerungssoftware vorsätzliche sittenwidrige Schädigung? Bei der Musterfeststellungsklage geht es darum festzustellen, ob VW unrechtmäßig gehandelt hat – und ob grundsätzlich ein Anspruch auf Schadenersatz besteht.

Die Kläger müssen allerdings einen sehr langen Atem haben: Bis zu zu vier Jahre kann es dauern, bis ein Urteil in der Musterfeststellungsklage zum Abgasskandal steht. Und dieses Urteil bedeutet auch nicht, dass die Verbraucher eine Entschädigung erhalten. Es ist nur die Grundlage dafür, selbst noch einmal vor Gericht den individuellen Schadenersatz einzufordern. Dann allerdings ohne langwierige Beweisführung und mit weniger Risiko.

Gegenüber einer Einzelklage hat die Musterfeststellungsklage neben der Dauer noch einen weiteren wesentlichen Nachteil: Eine hohe Entschädigung winkt nicht. Der Schadensersatz bemisst sich am Restwert der Diesel-Fahrzeuge, und der sinkt mit jedem gefahrenen Kilometer – die lange Dauer des Verfahrens spielt hier also eine große Rolle.

Lohnt sich eine Einzelklage?

Schneller und lohnenswerter ist also eine Einzelklage im Abgasskandal gegen Volkswagen. Die Chancen stehen gut, wenn das Diesel-Fahrzeug bestimmte Voraussetzungen mitbringt.

Helmut Dreschhoff hat für die Kanzlei Baumeister Rosing schon viele erfolgreiche Prozesse im Dieselskandal geführt und rät Verbrauchern, ihren Anspruch testen zu lassen.

„Wenn ich einen Passat für 30.000 Euro gekauft habe und jetzt 125.000 Kilometer gefahren bin, dann kann ich zumindest noch 15.000 Euro, also die Hälfte, als Schadensersatzanspruch erwarten.

Der Anspruch bemisst sich am Kaufpreis, dieser wird allerdings reduziert um eine Nutzungsentschädigung für die gefahrenen Kilometer. Alternativ kann man eine Einmalzahlung erwarten, in Höhe von ca. 15-20 Prozent, die sich auch am Kaufpreis orientieren würde.“

Auf der Internetseite www.diesel-gate.com gibt es weitere Informationen darüber, ob das eigene Fahrzeug bei einer Klage Erfolg haben kann. Wichtig: Die Verjährung nicht verpassen!

Helmut Dreschhoff: „Verjährung beginnt dann, wenn man von den Tatbestandsvoraussetzungen seines Anspruchs Kenntnis erlangt hat. Hier ist die große Frage: Wann haben die Verbraucher tatsächlich Kenntnis gehabt, dass sie betrogen wurden? Die meisten Rückrufschreiben wegen des Software-Updates sind im Jahr 2016 verschickt worden. Deshalb empfehlen wir dringend, noch 2019 in die Einzelklage zu gehen, weil hier die Verjährung droht.“

Was ist mit Mercedes, Porsche, BMW?

Der Diesel-Abgasskandal hat bisher nur Volkswagen mit voller Härte erwischt. Dabei gibt es immer wieder Meldungen, dass auch andere Hersteller geschummelt haben.

Erst kürzlich wurden mehrere hunderttausend Mercedes-Vito Fahrzeuge der Euro 5 Klasse zurückgerufen. Helmut Dreschhoff erwartet, dass auch bei den anderen Herstellern bald noch mehr Schummelei auffliegt:
„Wir gehen davon aus, dass eigentlich alle Hersteller von Diesel geschummelt haben. Ohne manipulierte Abgas-Software haben die Hersteller in den letzten zehn Jahren die Grenzwerte kaum einhalten können. Wir führen auch bereits Musterklagen gegen andere Hersteller, wenn wir diese erfolgreich führen, werden wir darüber weiter aufklären.“

Der Dieselskandal in Kürze

Der Dieselskandal wurde in den USA aufgedeckt. Volkswagen wollte dort mit einem besonders sauberen „Clean Diesel“ neue Kunden hinzugewinnen – dann enthüllten die Behörden 2015 einen jahrelangen Betrug bei Abgastests. Diesel von VW hatten die Grenzwerte im realen Fahrbetrieb um das bis zu 40-fache überschritten – auf dem Prüfstand aber alle Emissionsziele eingehalten. Der Trick: Manipulierte Software, die einen Großteil der Abgasreinigung auf der Straße abschaltet.

Der betroffene Motor EA 189, besser bekannt als 1.6 TDI und 2.0 TDI, ist in elf Millionen Autos verbaut. Darunter sind VW-Modelle wie Beetle, Passat oder Multivan und Fahrzeuge von Skoda, Audi und Seat.

Auch in Deutschland wurden kurz nach Bekanntwerden des Skandals in den USA Ermittlungen eingeleitet. Bei uns sind 2,8 Millionen Dieselfahrzeuge von VW betroffen, aber auch Fahrzeuge anderer Hersteller. Gegen den ehemaligen Vorstandschef Martin Winterkorn und andere Vorstandsmitglieder wird ermittelt, Winterkorn wurde inzwischen angeklagt. Es geht nicht nur um die Schädigung der Verbraucher sondern auch um Marktmanipulation und Steuerhinterziehung – denn durch die viel zu niedrig angegebene Abgaswerte sind auch die Bescheide für die Kraftfahrzeugsteuer falsch. Damit entgehen dem Staat Steuereinnahmen. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages prüft zudem die Verbindungen zwischen Autokonzern und Politik.

Der Dieselskandal hat auch noch weitere Folgen. Er hat die Diskussionen über Abgas-Grenzwerte, Fahrverbote und eine Verkehrswende befeuert.

Hintergrund: Diesel schmutziger als Benziner?

Seit dem VW-Skandal ist Diesel ein Synonym für schmutzig. Aber ist das auch so?
Was den Ausstoß von klimaschädlichem CO2 angeht, sind Dieselmotoren tatsächlich sauberer als Benziner. Auch beim Feinstaub, der besonders gesundheitsschädlich ist, machen sie sich besser.
Wirklich schlecht schneiden Diesel dagegen bei Stickoxiden ab: Dieselmotoren sind für 70 Prozent der NO2-Emissionen in den Städten verantwortlich. Stickoxide können unter anderem die Atemwege reizen. Wie gefährlich sie aber wirklich sind, lässt sich schwer feststellen. Beobachtungsstudien haben nachgewiesen, dass bei einer hohen Stickoxid-Belastung Herz-Kreislauf-Erkrankungen ansteigen. Aber bei solchen Studien kann die Stickoxid-Belastung nicht isoliert betrachtet werden, der Einfluss anderer Faktoren wie Feinstaub ist also nicht klar.

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